Sekito Kisen — Sandokai

Der Geist des großen Weisen aus Indien wurde direkt von Westen nach Osten übermittelt. 

Menschen unterscheiden zwischen Dummen und Klugen, doch auf dem wahren Weg gibt es keine Patriarchen des Südens oder des Nordens.

Die Quelle der Lehre ist rein und ohne Makel. Bäche die sich verzweigen fließen in der Dunkelheit.

An einer Idee zu haften ist Täuschung. Die Wahrheit zu erkennen ist auch nicht immer Erleuchtung.

Die Sinne und ihre Objekte sind eng miteinander verbunden und gleichzeitig voneinander unabhängig. Doch trotz ihrer unendlichen Verbundenheit haben sie alle ihren eigenen Ort.

Dinge unterscheiden sich in Wesen und Form. Im Geschmack, Klang und Gefühl manifestieren sich gut und schlecht. Im Dunkeln sind hochwertig und minderwertig nicht zu unterscheiden. Im Hellen wird der Gegensatz von rein und unrein deutlich.

Die vier Elemente kehren zur ihrer Natur zurück, wie ein Kind zu seiner Mutter. Feuer erhitzt, Wind bewegt, Wasser nässt, Erde ist fest.

Für die Augen gibt es Farbe und Form. Für die Ohren gibt es Klang. Für die Nase gibt es Geruch. Für die Zunge gibt es Geschmack.

Jedes Phänomen entspringt der Wurzel, so wie Zweige und Blätter aus dem Stamm sprießen. Wurzel und Baumspitze kehren zu ihrer ursprünglichen Natur zurück.

Hohe und niedrige Worte sind unterschiedlich. In der Helligkeit da ist tiefste Dunkelheit, hafte nicht an der Dunkelheit. In der Dunkelheit da ist Helligkeit, aber suche nicht nach der Helligkeit. Dunkelheit und Helligkeit wechseln einander ab wie beim Gehen der vordere und hintere Fuß.

Jedes Phänomen hat seinen Wert. Ihr solltet darauf achten, wie die Wahrheit zum Ausdruck gelangt. Das Relative passt zum Absoluten wie ein Deckel zu seinem Behälter. Das Absolute und das Relative entsprechen einander wie zwei Pfeile, die sich im Flug begegnen.

Hörst Du die Worte, solltest Du die Quelle der Lehre verstehen. Entwickle keine eigenen Maßstäbe. Erkennst du den Weg nicht mit deinen Augen, wie sollten dann deine Füsse um ihn wissen? In der Übung fortschreiten ist weder fern noch nah. Im Zustand der Täuschung bist du Berge und Flüsse davon entfernt.

Ich fordere alle Sucher der Wahrheit ehrerbietig auf: Vergeudet eure Tage und Nächte nicht.

Sandokai
von Sekito Kisen (700-790)

Alan Watts — Buddhismus ist die Disziplin des Loslassens.

Der entscheidende Unterschied zwischen Buddhismus und Hinduismus liegt darin, dass der Buddhismus uns nicht sagt, wer wir sind. Er stellt uns keine Vorstellung, kein Denkmodell bereit. Vor allem aber möchte ich betonen, dass ihm keine Vorstellung und kein Denkmodell von Gott zugrunde liegt, denn der Buddhismus interessiert sich nicht dafür, sondern ausschließlich für die unmittelbare Erfahrung. Vom buddhistischen Standpunkt aus sind alle Denkmodelle in dem Sinne falsch, dass ein Gegenstand nicht wirklich das ist, was man von ihm behauptet. Ist der Gegenstand vor mir ein Hocker? Dreh ihn um, und er wird zum Papierkorb. Wenn ich auf ihn schlage, ist er eine Trommel. Was man damit macht, bestimmt also, was ein Ding ist, und jede neue Verwendung macht wieder etwas Neues daraus. Wenn sich aber die Vorstellung festgesetzt hat, dass dies Ding ein Hocker ist und man nur darauf sitzen kann, kommt man nicht weiter. Erkennt man dagegen auch die anderen Möglichkeiten, dann wird einem plötzlich klar, dass sich im Grunde alles in alles verwandeln kann. In diesem Sinne gibt uns der Buddhismus kein definierbares Ich vor, denn wer an ein solches definierbares Ich glaubt, hängt an einer Idee und will sich an einer spirituellen Sicherheit festhalten.

Viele Menschen sagen, dass sie von einer Religion Halt erwarten. Ein Buddhist würde sagen, darum gehe es ganz und gar nicht. Solange man sich an etwas festhält, hat man keine Religion. Nur wer vollständig loslassen kann, nur wer für sein seelisch-geistiges Gleichgewicht keine fixe Idee braucht, ist wirklich da. Das mag man zunächst als eine sehr destruktive Seite des Buddhismus empfinden, denn sie zerstört den Glauben an einen Gott. Der Buddhismus glaubt weder an eine unsterbliche Seele, noch sucht er Trost in irgendeiner Vorstellung vom Leben nach dem Tode. Er stellt sich der Tatsache, dass das Leben vergänglich ist. Da es nichts zum Festhalten gibt, muss man loslassen. Buddhismus ist die Disziplin des Loslassens, und wer loslässt, entdeckt etwas viel Besseres als jeden Glauben, etwas Wirkliches – aber worin dieses Wirkliche besteht, lässt sich nicht in Worte fassen.

Alan Watts, ”Buddhismus verstehen – Die Religion der Nicht-Religion”