Jean Klein — Demut

Demut ist nicht etwas, das Sie wie ein Kleidungsstück tragen können. Sie hat nichts mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenen Augen zu tun. Sie kommt zustande, wenn die Individualität wieder ins Sein, in die Stille aufgesogen ist. Sie kommt, wenn alle Unruhe endet. Demut ist in der Aufmerksamkeit, in der Wachheit. Sie ist Empfänglichsein, Offenheit all dem gegenüber, was das Leben bringt. Wenn man vom psychologischen Gedächtnis, vom Anhäufen von Wissen frei ist, ist das Unschuld. Unschuld ist Demut.

In intimen oder problematischen Situationen sollte jeder voller Demut zur Sprache bringen, was er empfindet. Das ist ein bloßes Aussprechen von Tatsachen, ohne Rechtfertigung, ohne Erklärungen. Wir sollten keine Schlüsse ziehen. Wenn wir der Situation gestatten, von Bewertung und vom Druck des Schlußfolgerns frei zu sein, zeigt sich so vieles, das nicht dem Bereich unseres Gedächtnisses angehört.

Demut entsteht, wenn man sich nicht auf ein «Ich» bezieht. Diese Leere ist der Heilungsfaktor einer jeden Situation. Heidegger sagt: «Der Offenheit offen sein». Seien Sie für das Nicht-Schlußfolgern offen. In solcher Offenheit bringt die Situation ihre eigene Lösung, im Offensein empfangen wir sie. Wenn sich die Lösung zeigt, mischt sich der Verstand oft ein, tritt in Konflikt mit ihr und stellt sie in Frage.

aus: Jean Klein, “Wer bin ich? Was ist der Mensch?”

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